SCHWERPUNKTTHEMA: TRÄUME
Der Traum von der Gerechtigkeit
Was ist der Traum eines Richters von der Gerechtigkeit? Also nicht das, was mir durch den Kopf geht, wenn ich am frühen Nachmittag im Büro über einer Akte grübelnd die Augen schließe, um mich zu sammeln, bis ich merke, wie mein Kopf eine merkwürdig taumelnde Bewegung Richtung Schreibtischplatte vollführt. Sondern gemeint ist meine Wunschvorstellung davon, wie Gerechtigkeit verwirklicht sein sollte – also dieses Gut, das so kostbar ist, dass sparsam mit ihm umgegangen werden sollte, wie Kabarettisten meinen.
„Gerecht“, eine Mischung aus aufrecht und gerade, beschrieb in der Antike und im Mittelalter erstmal eine Tugend, eine Anforderung an jeden einzelnen, den anderen gerecht zu werden. In der späteren mittelalterlichen Philosophie fand man, dass kein Mensch dies gegenüber allen fortwährend schaffen könne, sondern dass vollendete Gerechtigkeit nur Gott möglich sei. Gerechtigkeit, eine göttliche Tugend also. Aber was bedeutet es überhaupt, die anderen gerecht zu behandeln?
Wenn ich an Gerechtigkeit denke, denke ich eigentlich an eine Anforderung an den Mächtigen, richtig zu handeln, wenn es darum geht, etwas zu verteilen, etwas zu regeln oder zu strafen. Zum Beispiel, wenn die Eltern bestimmen, welches der Kinder das letzte Stück Schokolade bekommt oder was vom Taschengeld gekauft werden darf, oder wenn ein Richter bestimmt, wer für den Schaden, der durch einen Autounfall entstanden ist, aufkommen muss, oder ob ein Manager, in dessen Konzern Behörden und Kunden millionenfach über Abgaswerte getäuscht wurden, bestraft wird.
Maßstab dabei ist das Recht, besonders die Gesetze, die für alle gelten, ohne Ansehen der Person. Für mich und meine Kolleginnen, mit denen ich vor ein paar Tagen in der Kaffeerunde über dieses Thema philosophiert habe (für einen Richter ist es immer gut zu hören, was wohl die Kolleginnen und Kollegen meinen), ist es dabei klar, dass bei Gericht nicht immer derjenige das bekommt, was ihm wirklich zusteht. Zum Beispiel dann, wenn er seinen Anspruch, den die Gegenseite bestreitet, nicht beweisen kann. Wenn das aber in einem fairen Verfahren, in dem beide Seiten gehört werden, herauskommt, ist das auch Gerechtigkeit – ein Mindestmaß sozusagen. Mehr geht nicht, denn klar ist: Wer möchte, dass er vom Gericht etwas gegen den Willen eines anderen zugesprochen bekommt, muss den Richter davon überzeugen, dass er Recht hat. Nur dann bekommt er Recht (auch wenn es irgendwie merkwürdig klingt, dass man etwas bekommen soll, was man eigentlich schon hat). Ähnliches gilt im Strafverfahren für den Staatsanwalt, der den Richter davon überzeugen muss, dass der Angeklagte für die Tat, die ihm vorgeworfen wird, auch verantwortlich ist und er die Strafe verdient. Dieses Verfahren finde ich ziemlich gut, und die Gesetze, die es anzuwenden gilt, meistens auch.
Mein Vater erinnert mich immer wieder mal daran, dass es besonders in Strafverfahren vorkommt, dass Angesehene, Reiche, Gebildete, Bosse aus Wirtschaft und Politik, viel besser bei Gericht wegkommen als die „Normalen“ oder gar die Armen, Ungebildeten. Das stimmt leider.
Mein Traum von der Gerechtigkeit ist deshalb, dass auch dann, wenn es um richtig viel Geld geht, die Sachen schwierig sind, die Akten richtig dick und viele Anwälte viele Argumente bringen und viel Arbeit machen, damit ein milder „Deal“ herauskommt, trotzdem Urteile gefällt werden, die dem entstandenen Schaden gerecht werden. Und derjenige, der auf komplizierte, verdeckte Weise gegen das Recht verstoßen hat, für einen hohen Schaden genauso hart bestraft wird wie jemand, der auf „einfachere“ Art strafrechtlichen Schaden verursacht hat und viel einfacher zu verurteilen ist.
Thorsten Tanto ist Richter am Amtsgericht Saarbrücken und Presbyter und Hobbyfotograf in Schafbrücke
28.11.2024
Snow Days – Schneetage: Sie rissen uns unerwartet und ungeplant aus unserem Alltag. Die Kinder blieben zuhause, die Erwachsenen brachen erst spät, wenn überhaupt, zur Arbeit auf. Der Verkehr war erlahmt. Die Welt um uns verschwand in wirbelndem Weiß, der Lärm verstummte, die Zeit stand still. Erst wenn der Schneefall nachließ und die Welt unter einer unberührten weißen Decke zurückblieb, fing die Uhr wieder langsam an zu ticken. Der Schneepflug rumpelte durch die Straße, die Einfahrt musste geschippt werden, von nebenan grüßten die Nachbarn, die Kinder wälzten sich im Schnee und machten Schneeengel. Sie bauten Schneemänner und Schneehöhlen und kramten die Schlitten raus.
So hatten wir es gewollt, als wir Ontario, Kanada wählten statt Texas, USA, als wir den Wechsel der Jahreszeiten über den ewigen Sommer stellten. So wie wir es aus der eigenen Kindheit kannten: milde Frühlingsluft, heiße Sommertage, flammende Herbstfarben und den sanften Schneefall im Winter. Und es gab Schnee. Mal schneite es schon im Oktober, mal blieb der Schnee bis Ostern liegen. Manchmal gab es kurze Warmzeiten mit Regen, dann ist der tauende Schnee wieder angefroren und Gehweg und Einfahrt waren wochenlang vereist.
Ein Schneesturm überraschte uns kurz vor Weihnachten. Wir trauten uns nicht mehr hinaus aufs Land, um in der Plantage einen Baum zu schlagen. Mein Mann klapperte sämtliche Christbaumverkäufer ab und kam mit einem kleinen krummen Bäumchen zurück. Es gab nichts anderes mehr. Die Enttäuschung bei den Kindern war riesig, es flossen sogar Tränen.
Meine Schwester kam mit ihren beiden Kindern über Weihnachten zu Besuch. Über die Feiertage hat es nur geregnet, und doch hatten wir eines unserer schönsten Feste. Erst als ich sie zurück zum Flughafen ins 200 km entfernten Toronto fuhr, fing es an zu schneien. Ich schlich durch einen Schneesturm im Windschatten eines LKWs zurück nach Hause, langsam und vorsichtig erreichte ich mit heiterem Herzen mein Ziel.
Heiligabend standen wir mit unseren deutschen Freunden auf dem Parkplatz der Kirche nach dem Gottesdienst und sangen „Oh, du fröhliche“ in sanft fallendem Schnee. Am Weihnachtsmorgen, als alle anderen ihre Geschenke auspackten, fuhren wir hinaus ins Naturschutzgebiet und stapften durch den Schnee bis an die Stelle im Wald, wo sich die Meisen aus der Hand füttern ließen.
Der Zauber von frisch gefallenem Schnee, der die Nacht erhellt und die graue Welt bedeckt, der den Lärm dämpft und zum Innehalten einlädt, dieser Zauber, zusammen mit dem Wunder der Geburt des Kindes, das Licht in die Welt bringt, das uns Trost spendet und Mut macht, das Hoffnung weckt, das ist mein Traum von der weißen Weihnacht.
Betina Speicher
28.11.2024
Dass immer mehr Gemeinden fusionieren müssen, ist ein sichtbares Zeichen einer unumkehrbaren Entwicklung innerhalb der Kirchen, der Katholischen wie der Evangelischen. Die fetten Jahre sind vorbei, und damit auch die Zeit der Bequemlichkeit, in der man sich vielerorts eingerichtet hatte.
Noch ist ein guter Zeitpunkt, um kreativ über Kursänderungen nachzudenken – solange noch Menschen in den Gottesdienst kommen, solange noch junge Leute konfirmiert werden. Es ist in der Evangelischen Kirche viel darüber diskutiert und geschrieben worden, wohin die Reise gehen könnte: Könnte es nicht thematische Kirchen statt oder ergänzend zu den Parochialgemeinden geben: eine Kirche der Stille, eine Kirche der Vielfalt, eine Kirche der Experimente? Soll es überhaupt beim regelmäßigen Sonntagsgottesdienst bleiben oder nicht flexiblere gottesdienstliche Angebote geben? Wie können Gemeinden professioneller werden bei Internet und Social Media? Wie muss sich die Gottesdienstsprache ändern, damit sie noch verstanden wird? Welche Angebote sind wirklich noch wichtig, und welche Zöpfe dürfen abgeschnitten werden?
Das sind wichtige Fragen, und auch in unserer Gemeinde muss darüber gesprochen werden. Mich hat ein Buch aber besonders inspiriert, das sich den Zukunftsfragen in ganz anderer Weise zuwendet: „Ich träume von einer Kirche der Hoffnung“ von Monika Renz. Sie beschäftigt sich nicht mit Strukturfragen, sondern sie geht in den Kern des Glaubens und fragt: Wie kann Kirche sich (endlich) hinbewegen zum unmittelbaren Gott? Wie können Menschen berührt, ergriffen und auf neue Weise offen werden für Wandlung? Monika Renz erinnert daran, dass das emotionale Geschehen in den Vordergrund rücken muss, die Ebene des Wortes kann dann folgen. Sie plädiert für eine mystische Kirche, die der Spur des mystischen Jesus folgt, und die Menschen hilft, das Angeschlossensein an Gott zu erfahren. Die Zukunft liegt, so die Theologin und Sterbeforscherin, in einer Kirche, „die persönlich berührt“. Vielleicht ist dies ein guter Ausgangspunkt, auch für die notwendigen Diskussionen in unserer Gemeinde: nicht krampfhaft festhalten am Bisherigen, sondern fragen, was Menschen heute und vor allem in der Zukunft brauchen, um von Kirche persönlich berührt zu werden. Möglicherweise kommen dann ganz neue Ideen in den Blick.
Veronika Kabis
28.11.2024